Libroid

Libroid – ein Projekt für die Zukunft des Lesens

Das Buch löst sich aus seiner papiernen Hülle und taucht als Datensatz in digitalen Leseapparaten wieder auf. Dadurch öffnet sich ihm ein Kontinent unbekannter Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Andrerseits droht es im Wettbewerb mit anderen Medienangeboten seinen Charakter zu verlieren. Wie lassen sich Würde und Klarheit des Buches erhalten, wie das „reine“ Lesevergnügen im multimedialen Geflacker, wenn alte Gewohnheiten und Sinnlichkeiten verloren gehen, haptische wie stoffliche?

Libroid

Das Libroid als ist als Reaktion auf die digitale Revolution zu verstehen. Es tritt an, das „Buchartige“ des entleibten Buches zu bewahren. Es wird das Buch nicht ersetzen, sondern die Vielfalt der Medienangebote im Bereich des Lesens erweitern. Neben- und miteinander, nicht gegeneinander, haben sie eine gemeinsame Zukunft. So wie neben dem Fernsehen das Radio blüht, das allen Befürchtungen zum Trotz niemals verdrängt worden ist und seine große Zukunft noch vor sich hat.

Libroide befreien das Buch von den Zwängen des Gedruckten. Sie gehen neue Wege der Darstellung, die Lesern auch dann noch gerecht werden, wenn neben dem Text weitere Inhalte angeboten werden. Ihr erstes augenfällige Merkmal: Texte in Libroiden werden nicht geblättert, sondern gerollt („gescrollt“). Da Seitenzahlen überdies ihren Sinn verlieren, wenn Leser individuell Schriftgrößen verändern können, fehlen Libroiden auch die nummerierten Seiten. Im fortlaufenden Text wird die aktuelle Lesestelle durch eine Prozentzahl ausgedrückt.

Damit greift das Libroid weit in die Geschichte der Herstellung von Schriftwerken zurück, zu Schrifttafeln und später Schriftrollen. Seite, Blatt und Blättern entstanden erst mit dem Kodex, dem Aufeinanderschichten, Bündeln und – später – Binden einzelner Seiten in der Römerzeit. Der Buchdruck schuf daraus die Massenware.

Seit Autoren ihre Schreibmaschinen durch Computer ersetzt haben, schreiben sie im Prinzip wie auf einer Schriftrolle fortlaufende Texte. Für sie gehört es längst auch zum Alltag, innerhalb ihrer Manuskripte zu jeder Stelle springen zu können, sie zu verändern, Passagen umzustellen, zu ergänzen und zu verändern.

Die Leser hingegen befinden sich mit dem gedruckten Buch – aber auch mit eBooks als digitale Kopien von Büchern – nach wie vor in Gutenbergs Galaxie: Mit dem virtuellen „Blättern“ von Seiten, oft so kunstvoll programmiert, dass es sich tatsächlich „schön“ anfühlt, sollen eBooks an die mehr als 500 Jahre alte Tradition des Buches aus Papier anknüpfen.

Libroid

Libroide sind anders: Sie spiegeln die Arbeitsweise der Autoren wider. Dabei greifen sie auf Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie zurück, etwa bei der Lesbarkeit von Textblöcken, die wir nur in einem zentralen "Fenster" erfassen können. Seine Größe ist genau bekannt und in konventionellen Büchern verwirklicht: Die optimale Breite einer Zeile beträgt je nach Schrifttyp plusminus 60 Anschläge. Damit gibt das gedruckte Buch als ausgereiftes Produkt die Maße vor, der sich alle Texte zu fügen haben, auch in Lesegeräten.

Aus dem Augenwinkel sehen wir gleichwohl auch Dinge und Geschehnisse neben dem zentralen Wahrnehmungsfeld, wenn auch mit geringerer Schärfe und Auflösung. Autofahrer können sich auf den Verkehr vor ihnen konzentrieren und gleichzeitig Rückspiegel und Instrumente im Auge behalten. Bilder, Muster und Symbole lassen sich leichter erkennen – ein Grund, warum sich digitale Darstellungen, etwa der Geschwindigkeit auf Tachometern, nie durchgesetzt haben.

Solche Lehren aus der Ergonomie des Lesens bestimmen den Aufbau des Libroids. Da sich Texte sich wie von der Rolle lesen und entsprechend weiterbewegen lassen, lag es nahe, auch die übrigen Elemente des Libroids diesem Paradigma zu unterwerfen. Das ist der Kern der Libroid-Technik - die Dreispaltentechnik: Im Mittelbereich steht Text, den die Augen optimal erfassen, rechts und links davon grenzen schmalere Randspalten an, die das „dritte Auge“ wahrnimmt. Dort können sich Fotos befinden, Links ins Internet, Originalquellen bis hin zu kompletten Werken, Karten, Noten, Grafiken, Fußnoten usw.

Damit Leser sie wahrnehmen, ohne über Gebühr vom Text abgelenkt zu werden, erscheinen diese Zusatzelemente in Kleinformaten (etwa als Thumbnails oder Icons). Es bleibt dem Leser selbst überlassen, sie durch Berühren der Symbole aufzurufen - oder nicht. Werden sie wieder geschlossen, führt eine Ankerfunktion an die zuletzt gelesene Stelle im Text.

Die drei Spalten sind so verzahnt, das zueinander gehörende Inhalte wie Text, Bild, Link oder Quelle stets in der Bildschirmmitte – „auf Augenhöhe“ – aufeinandertreffen. Wird eine der Spalten gerollt, bewegen sich die anderen entsprechend ihrer inhaltlichen Verzahnung mit eigener Geschwindigkeit mit.

Durch eine Drehung des Lesegeräts von der Waagerechten in die Senkrecht lassen sich die Randspalten zugunsten des „reinen“, ungestörten Lesens wie durch Magie zum Verschwinden bringen: Auf dem Bildschirm erscheint nichts als – rollbarer – Text.

Das ruhige Lesen des zentralen Textes steht – buchstäblich – im Mittelpunkt. Daher wird in Libroiden auf hektische, vielgesichtige Layouts mit ständig wechselnder Optik verzichtet, die vom Lesen ablenken. Erst ihre individuelle Entscheidung bringt Leser in Welten jenseits des Texte.

Mit dem Libroid dringt das Buch aus der Fläche in neue Dimensionen vor, und zwar in Raum und Zeit. Quellen lassen sich hinter Texte legen und auf Bedarf an die Oberfläche holen. Auf der Zeitachse lassen sich beliebig verändern und ergänzen – durch den Autor, etwa zur Aktualisierung seines Textes, oder aber interaktiv durch den Leser, etwa durch eigene Notizen oder Internet-Links. Im Libroid wird das Buch auf neue Weise lebendig.

Das dynamische „Content Management System“ der Dreispaltentechnik ermöglicht mehrsprachige Libroide im identischen Erscheinungsbild. Es lässt außerdem jederzeit zu, neue Sprachfassungen in Libroide einzufügen. Die unterschiedlichensprachlichen Versionen sind ebenfalls so dynamisch aufeinander abgestimmt, dass beim Umschalten zwischen den Sprachen jeweils dieselbe Textstelle erscheint.

Als Libroide können Bücher erstmals simultan weltweit publiziert, gekauft und heruntergeladen werden. Leser können über alle (Sprach-)Grenzen hinweg selber eingefügte Inhalte untereinander austauschen und vergleichen. Diese Funktionen des „social reading“ eröffnen Möglichkeiten virtueller Lesegemeinschaften und Buchclubs, die über den gesamten Globus reichen können.

Zum Charakter des Lebendigen gehört auch, dass neue Sinnlichkeiten den Verlust der alten erträglicher machen oder sogar vergessen lassen. Berührungsempfindliche Bildschirme ersetzen die hergebrachte Haptik durch neue Möglichkeiten des Tastens, die intuitiv unmittelbar eingängig sind. Anfassen, Drücken, Tippen, Ziehen und Wischen sowie das Kippen um 90 Grad erweitern den Handlungsspielraum der Leser. Das erleichtert besonders den ganz Jungen und Alten den Umgang mit der neuen Technik.

Durch seine gummiartig verbundenen Spalten verschafft das Libroid seinen Lesern bei jedem Weiterrollen ein unverwechselbares Erlebnis – das Gefühl spielerischer Verfügungsgewalt, wenn die drei drehenden Rollen sich wie in Einarmigen Banditen in der Mitte des Schirms inhaltsgenau einpendeln.

Das Libroid-Verfahren soll Autoren in Zukunft in die Lage versetzen, selber Werke für multimediale Lesegeräte zu verfassen. Sie können sie vom Verlag der ungedruckten Bücher herstellen und vertreiben lassen – oder gegen eine Lizenzgebühr für die Nutzung der Technik in Eigenverantwortung verlegen.

Die Autonomie der Autoren gegen technische Zwänge zu verteidigen, zu bewahren und auszubauen, war eine treibende Kraft bei der Entwicklung des ersten Libroids. Sie als Urheber sind die besten Garanten dafür, den Übergang vom festen ins flüchtige Medium zu erleichtern und dem Buch als entleibtem Datensatz möglichst viel seines Charakters und seiner Würde zu bewahren.